HINTERGRUND-
& ZIELE
Identität macht uns als Menschen aus und prägt uns in verschiedenen Formen und wie wir die Welt wahrnehmen, wie die Welt uns wahrnimmt oder wie wir wahrgenommen werden möchten. Sie setzt sich zusammen aus individuellen, kollektiven, zugeschriebenen und selbstgewählten Aspekten. Sie ist vielschichtig und verändert sich über Zeit und abhängig, von den Kontexten, in denen wir uns bewegen. Es ist daher zentral, dass wir uns mit unserer Identität auseinandersetzen und uns damit gut und gestärkt fühlen. Dies fördert einen konstruktiven Umgang mit Verunsicherungen, Angst, Differenzen und stärkt die individuelle Resilienz und den Zusammenhalt in einer Gesellschaft.
Der öffentliche Diskurs über Schweizer Identität basiert häufig auf vagen oder stark stereotypen Bildern und Eigenschaften einer «typischen Schweizer Person». Dass sich Kulturen, Werte und Identitäten über die Zeit wandeln, wird dabei meist ausgeblendet – vielmehr wird die Idee vermittelt, dass man einfach Schweizer:in ist – oder eben nicht. Gerade in patriotischen Subgruppen, die häufiger im ländlichen Raum aktiv sind, wird zuweilen zwischen «Schweizer:innen» und «Eidgenoss:innen» unterschieden – ersteres könne jede:r werden, aber letzteres referiert auf einen als natürlich gesehenen «wahren Kern» der Schweizer Identität. Von den Menschen mit Migrationsgeschichte wird erwartet, dass sie sich für eine Identität entscheiden. Die Möglichkeit von Mehrfachzugehörigkeiten oder Bindestrich-Identitäten, wie sie anderswo gelebt werden (und die es ermöglichen, Teil einer neuen Heimat zu sein, ohne eine andere ganz loslassen zu müssen), ist in der Schweiz nicht prominent vertreten.
Ein weiterer Aspekt, der in der Debatte um Schweizer Identitäten oft übersehen wird, ist derjenige der Diskriminierung. Es wird häufig ausgeblendet, welcher Diskriminierung einerseits Personen mit Migrationsgeschichten ausgesetzt sind – auch so genannt «gut integrierte» – und andererseits, welche Privilegien damit einhergehen, wenn man nicht von Diskriminierung betroffen ist. Sowohl Diskriminierung als auch Privilegien erfahren Menschen aufgrund ihrer Identitäten. So zeigen z.B. verschiedene Studien, dass Personen nur aufgrund ihres Namens weniger Chancen auf dem Wohnungs- oder Arbeitsmarkt haben. Dies zieht fehlende Zukunftsperspektiven nach sich. In gewissen Fällen kann diese Wahrnehmung bei Menschen mit Migrationshintergrund zu einem Gefühl der Bedrängnis, des Nicht-Willkommenseins und zu einer Abwendung von der Schweiz führen. Im schlimmsten Fall wird so ein Grundstein für eine dschihadistisch oder anderweitig motivierte Radikalisierung gelegt. Fühlen sich diese Menschen weniger von der Mehrheitsgesellschaft diskriminiert und sehen sie für sich valable Zukunftsperspektiven, dann verliert auch das Gefühl des Nicht-Dazugehörens an Stärke – und somit die extremistische Manipulation und Propaganda an Leuchtkraft.
Gleichzeitig verbreiten sich in vielen Teilen Europas und auch der Schweiz rechtspopulistische, radikale und extremistische Sichtweisen gegenüber Menschen mit Migrationsgeschichten. Menschen ohne Migrationsgeschichte haben teilweise das Gefühl, dass ihnen etwas weggenommen werde oder dass sie «im eigenen Land fremd» seien. Auch dieses Phänomen hat sehr direkt zu tun mit Fragen der Identität und deren Wahrnehmung.
Personen von Minderheitengruppen werden pauschal für verschiedenste Schwierigkeiten verantwortlich gemacht. So wird auch viel über die vermeintlich misslingende Integration gesprochen – der Fokus liegt dabei auf der Frage, was die Personen, die sich integrieren sollen, alles zu leisten versäumen. Zur Erklärung werden kulturelle Ansätze oft übermässig stark gewichtet, wohingegen andere Faktoren als Erklärungsansätze – wie der sozioökonomische Status, Alter, Geschlecht und Perspektivenlosigkeit – nicht berücksichtigt werden. Zudem wird der Beitrag der Mehrheitsgesellschaft an den Integrationsprozess oft ausgeblendet. Auch hier kann eine differenzierte Auseinandersetzung mit diesen Themen dazu beitragen das Bedürfnis nach Ab- oder Ausgrenzung «Anderer» und die Wirkung extremistischer Manipulation und Propaganda zu schwächen.
Auffällig ist, dass der Anteil der Menschen mit Migrationsgeschichte in Städten meist deutlich höher ist als in ländlichen Regionen. Migrations- und Integrationsbezogene Themen werden in der Stadt und auf dem Land oft unterschiedlich aufgefasst und diskutiert. Vorbehalte sind meist dort stärker, wo der Anteil der Menschen mit Migrationsgeschichte kleiner ist, also in eher ländlichen Regionen. Es gibt dort weniger Kontakt zwischen Personen ohne und mit Migrationsgeschichte. Diejenigen Kontakte, die es gibt, werden leicht als positive Ausnahmen betrachtet, im Vergleich zur «grossen Masse» – auf beiden Seiten – die den Vorurteilen angeblich entsprechen würde. Beide Seiten kapseln sich nach aussen ab, lernen sich kaum kennen und können diese Vorurteile so kultivieren. Ein Teil der Bevölkerung sieht die zunehmende Migration als eine Bedrohung und fühlt sich deshalb in ihren Vorurteilen bestätigt, die multikulturellen, linken Städte werden als arrogant und lebensfern wahrgenommen. In der Stadt hingegen wird die Landbevölkerung manchmal als konservativ, xenophob, manchmal gar als rückständig belächelt und nicht immer ernst genommen. Beide Seiten nehmen sich zunehmend als andersartig wahr, es gibt Ressentiments, Verunsicherung, Ab- und Ausgrenzung, Vorurteile, die Bevölkerung spaltet sich zunehmend. Dieser «Stadt-Land-Graben» wird teilweise auch aktiv im öffentlichen Diskurs bewirtschaftet.[1] Verschiedene Faktoren können diese Gefühle und Meinungen verstärken und im Extremfall – ohne präventive Massnahmen – kann es zu Extremismus und Radikalisierung führen, in alle möglichen politischen Richtungen.
Jugendliche befinden sich mitten in der Identitätsbildung, werden damit aber oft allein gelassen. Für viele Jugendliche ist es in dieser Findungsphase wichtig, sich mit einer Gruppe zu identifizieren – sie sehnen sich nach dem Gefühl von Zugehörigkeit. Extremistische Gruppierungen welcher Art auch immer, die in der Gefahr einer zunehmenden Radikalisierung stehen, sind gerade wegen dieses Zugehörigkeitsgefühls und der darin auftretenden Gruppendynamik für verunsicherte Jugendliche besonders attraktiv.
Das Gefühl nicht dazuzugehören oder nicht dazugehören zu wollen, findet sich also in verschiedensten Gesellschaftsgruppen. Menschen auf dem Land fühlen sich der städtischen Schweiz, Menschen in der Stadt der ländlichen Schweiz nicht zugehörig. Menschen mit Migrationsgeschichte fühlen eventuell, dass ihnen nicht das gleiche Recht zugesprochen wird mitzureden, Menschen ohne Migrationsgeschichte fühlen vielleicht, dass ihnen durch gesellschaftliche Veränderungen etwas weggenommen wird. Wer sich hingegen zugehörig und mit seinen eigenen Identitäten wohlfühlt, muss andere nicht pauschalisierend abwerten. Eine positive, nicht chauvinistische Identifikation mit eigenen (sozialen) Identitäten ist eine gute Voraussetzung dafür, gegenüber Vorurteilen über andere Gruppen eine reflektierte Distanz aufzubauen. Ein solcher positiver Stolz hilft, Brücken – echte, tragfähige Beziehungen von Mensch zu Mensch – zwischen verschiedenen Gruppen aufzubauen und bildet eine wichtige persönliche Ressource für Integration und für den nationalen Zusammenhalt und gegen Radikalisierung und Extremismus.
Das Projekt «iCH. Ich bin ein Teil der Schweiz» setzt an der Auseinandersetzung mit Identität(en) und Zugehörigkeit an. Es schaut genauer an, was es heisst, Schweizer:in zu sein, in einer Schweiz, die von Migration geprägt ist, welche Privilegien damit verbunden sind und wie Stadt-Land-Dynamiken mithineinspielen. Das Projekt leistet damit einen Beitrag zur Integration und gegen Diskriminierung und wirkt präventiv gegen verschiedene Formen von Extremismus und Radikalisierung. Im Projekt gehen wir davon aus, dass wer in der Schweiz ist, die Schweiz auch prägt. Wir alle mit unseren unterschiedlichen Biografien und Vorstellungen. Daher müssen wir auch miteinander sprechen und aushandeln, was die Schweiz ist, damit die Ressentiments, Verunsicherungen, Ab- und Ausgrenzungen, Vorurteile nicht überhand gewinnen. Wir alle sind ein Teil der Schweiz – wir gehören dazu, andere auch.
[1] Als Beispiele können hier zum einen die durch die SVP rund um den 1. August 2021 aufgebrachte Diskussion (siehe z.B. https://www.srf.ch/news/schweiz/chiesas-1-august-rede-stadt-gegen-land-wie-viel-wahrheit-steckt-in-der-svp-strategie) oder die Diskussion über die fehlende Vertretung der Städte im frisch gewählten Bundesrat im Dezember 2022 (siehe z.B. https://www.blick.ch/politik/nach-bundesratswahlen-stadt-land-frust-id18134265.html)
Das NCBI-Projekt „iCH. Ich bin ein Teil der Schweiz“ richtet sich an alle Menschen, die in der Schweiz leben, und hat zum Ziel, ihr Selbstbewusstsein als Teil der Schweiz zu stärken. Dies führt zu einem friedlicheren Zusammenleben im selben Land, zu einer besser gelingenden Integration vom Menschen mit Migrationsgeschichte und zum Abbau von Fremdenfeindlichkeit.
NCBI Schweiz geht davon aus, dass eine positive Identifikation mit seinen eigenen Identitäten die beste Voraussetzung dafür ist, zu den unabsichtlich angelernten Vorurteilen eine reflektierte Distanz aufzubauen und Brücken – echte, tragfähige Beziehungen von Mensch zu Mensch – zwischen verschiedenen Gruppen aufbauen zu können.
Wenn wir unsere eigenen nationalen Identitäten kennen und auf eine gesunde Art stolz auf sie sind, dann fällt es uns leichter, andere genauso zu akzeptieren.
Die folgenden übergeordneten Ziele sollen dabei helfen, dies zu erreichen:
- Das Projekt bezweckt die Stärkung des Zusammenhalts der Schweiz – insbesondere des städtischen und des ländlichen Raums. Miteinander ohne Vorurteile im Gespräch bleiben zu können, bildet eine zentrale Grundlage des demokratischen Zusammenlebens. Durch das Projekt soll so das Zugehörigkeitsgefühl zur Schweiz für alle gestärkt werden.
- Die teilnehmenden Jugendlichen setzen sich auf einer individuellen Ebene mit ihren Identitäten auseinander. Sie reflektieren dabei Ursprünge für Ängste und Opfergefühle und erlernen einen positiven Umgang mit Identität ohne Ausschluss und Abwertung von anderen. Zentrale Fragen dabei sind: Welchen sozialen Gruppen gehöre ich an? Welche Stereotype gibt es über meine Gruppen und wie wirken sich diese auf mein Selbstwertgefühl aus? Worauf bin ich stolz in Bezug auf meine Identitäten?
- Die teilnehmenden Jugendlichen setzen sich auf einer gesellschaftlichen Ebene mit Identitäten auseinander. In diesem Prozess reflektieren sie die Entstehung von Schweizer Identitäten, die gängigen Ausschluss-Narrative („wir-gegen-sie“-Mentalität) werden hinterfragt und Zugehörigkeit sowie positive Identifikation werden gestärkt. Vorurteile gegenüber Zugewanderten werden thematisiert, reflektiert und abgebaut. Somit wird ein positiver und konstruktiver Beitrag an die Integrationsbemühungen ermöglicht.
- Weiter werden eigene Privilegien thematisiert und reflektiert sowie genauer betrachtet, womit weniger privilegierte Personen sich täglich konfrontiert sehen. Dadurch erhalten einerseits die privilegierten Jugendlichen Zugang zu neuen Perspektiven, andererseits können weniger privilegierte Jugendliche ihre Erfahrungen in einem geschützten und sicheren Rahmen schildern, dabei Wertschätzung erfahren und somit in ihrer Identität gestärkt werden. Ausgangspunkt bilden die Fragen: Welche Privilegien habe ich (nicht)? Wie gehe ich damit um? Welche Erfahrungen machen weniger privilegierte Menschen?
Mit folgenden Thesen, die NCBI Schweiz bei der Lancierung des Projekts im Jahr 2014 formulierte, will NCBI eine konstruktive und zukunftsgerichtete Diskussion über Schweizer Identitäten anstossen. Sie gehen aus von der Prämisse, dass die Auseinandersetzung damit, was Schweizer Identitäten ausmacht und welche Privilegien damit verknüpft sind, einen zentralen Beitrag zur Integration und gegen Diskriminierung leisten kann.
Es ist ein Privileg der Mehrheit, sich mit der eigenen Identität nicht intensiv auseinandersetzen zu müssen. Wer dagegen zu einer Minderheit gehört, wird täglich mit seinem oder ihrem „Anderssein“ konfrontiert. Was genau Schweizer Identität(en) ausmacht, bleibt deshalb vage, abstrakt und widersprüchlich. Doch zusammen können wir aktuelle und zukunftsweisende Schweizer Identitäten entwickeln!
- Identität nicht zur Ausgrenzung benutzen.
- Schweizer Identität ist dynamisch und mehrdimensional.
- Schweizer Identität ist im Kern pluralistisch und wird von allen mitgeprägt.
- Ein positiver Bezug zur Schweizer Identität führt zu weniger Bedrohungsängsten durch als fremd wahrgenommene Identitäten.
- Bindestrichidentitäten können Migrant:innen eine Möglichkeit bieten, sich mit der Schweiz zu identifizieren, ohne ihre Herkunft zu verleugnen.
- Kommen wir zusammen, um neue, der gegenwärtigen Situation angepasste Schweizer Identitäten zu entwickeln!
Die Ausführungen zu den einzelnen Thesen finden Sie im Thesenpapier.
zum Thesenpapier (kurze Version) (90 kB)
zum Thesenpapier (lange Version) (350 kB)