AKTUALITÄT

In vielen Teilen Europas und auch der Schweiz verbreiten sich rechtspopulistische, radikale und extremistische Sichtweisen gegenüber Menschen mit Migrationsgeschichten. Es wird zunehmend polarisiert. Personen von Minderheitengruppen werden pauschal für verschiedenste Schwierigkeiten verantwortlich gemacht: die «Jugendgewalt» wurde mit jungen Männern aus dem Balkan, in Verbindung gebracht. Es wird suggeriert, dass Frauenfeindlichkeit, häusliche Gewalt oder Homophobie vor allem unter Männern aus dem globalen Süden oder aus islamischen Ländern vorkomme. In regelmässigen Abständen wird beklagt, dass die Kriminalität oder die Sozialhilfequote einer neuen Gruppe von Migrant*innen überproportional hoch sei. Immer wieder kommt ein neues Thema auf, doch der Grundtenor bleibt der gleiche: die Integration von Menschen mit Migrationsgeschichte gelinge nicht – und vielen dieser Menschen wird ein fehlender Integrationswille unterstellt.

Aber wie kommt Integration eigentlich konkret zustande? Wie meistere ich das Spannungsfeld zwischen meinen manchmal widerstrebenden Bedürfnissen nach Individualität und nach Zugehörigkeit? Diese Frage stellt sich für uns alle – mit oder ohne Migrationsgeschichte.
Damit Integration gelingt, braucht es natürlich einen Beitrag eines jeden Individuums. Wenn jemand in einem anderen kulturellen Kontext aufgewachsen ist, wird dieser Beitrag grösser: es wird schwieriger, sich im gesellschaftlichen Umfeld zurechtzufinden, weil Vieles anders ist, neu. Nicht nur die Sprache – auch alle Institutionen und das Alltagsleben sind anders. Ohne einen Beitrag des Umfelds – der Gesellschaft und der Menschen, die dazu gehören – kann die Integration aber nicht stattfinden. Dieser Beitrag kann nicht nur passiv sein. Zusätzlich zu Offenheit und Bereitschaft kann dieser gerade in einer aktiven Auseinandersetzung mit der eigenen Identität und den eigenen Privilegien bestehen.

Dieser Beitrag der Einheimischen an eine gelungene Integration ist zwar im Gesetz erwähnt, was er beinhaltet, bleibt aber unkonkret. Ebenfalls gibt es kaum eine Auseinandersetzung darüber, was Schweizer Identitäten überhaupt ausmacht und wie sich dies in Zeiten der Globalisierung und mit der Schweiz als privilegiertem Einwanderungsland ändert.

Während es Menschen mit Migrationsgeschichte in vielen Ländern durch Bindestrich-Identitäten (z.B. als „Afro-Amerikaner*in“) ermöglicht wird, sich als Teil der neuen Heimat zu fühlen, ohne die alte ganz loszulassen, herrscht in der Schweiz ein Bild vor, dass man entweder Schweizer*in ist – oder nicht. Was genau diese Schweizer Identität ausmacht, ist jedoch vage und abstrakt. Die Einheimischen bleiben unsichtbar. Dafür stehen Migrant*innen umso stärker im (oft kritischen) Rampenlicht der Öffentlichkeit. Nur sie sind sichtbar. Diese Bilder sind oft in den Regionen kritischer oder mit grösseren Vorbehalten verbunden, in denen der Anteil der Menschen mit Migrationsgeschichte tiefer ist: trifft man regelmässig auf Menschen aus einer bestimmten Gruppe, normalisiert sich dieser Kontakt – Stereotypen und kolportierte Schreckbilder verlieren aufgrund der realen Begegnungen an Halt.

Lange Zeit wurde eine positive, patriotische Sichtweise auf Schweizer Identitäten von der politischen Rechten vereinnahmt, was im Gegenzug eine positive Identifikation mit der Schweiz auf Seiten der Linken erschwerte und zu einem fehlenden, gesunden Stolz (positives Selbstwertgefühl in Bezug auf Identität im Sinne von NCBI – siehe die These 4 im Thesenpapier) führte. Gleichzeitig entwickelte sich in den letzten Jahren unter dem Trendbegriff der „Swissness“ ein hippes Gegenkonzept dazu, das sich scheinbar positiv auf die Schweiz bezieht. Es stellt sich aber die Frage, inwiefern sich Swissness als Marke effektiv als positive Identifikation mit einer Schweizer Kultur und Identität eignet und inwiefern es nur ein Marketing-Schlagwort für Uhren, Folklore usw. bleibt. Aber auch der rechtsnationalistische Patriotismus eignet sich in seiner Blindheit gegenüber einer kritischen Betrachtung und Aufarbeitung der Geschichte und Gegenwart der Schweiz nicht als realitätsnahes Konzept für eine ehrliche, differenzierte und positive Identifikation mit der Schweiz.

Wenn man also danach fragt, wie eine reflektierte, aufgeklärte und nichtsdestotrotz positive Schweizer Identität aussehen soll, gibt es bisher wenig überzeugende Antworten. Gibt es einen gesunden, aufgeklärten Stolz auf die Schweiz, dem es gelingt, auch kritische Punkte ins Bild zu integrieren, ohne in ein Lamento der Schweiz zu verfallen? Dazu kommt, dass die Frage, was „schweizerisch“ resp. „nicht schweizerisch“ ist und was es bedeutet, Schweizer*in zu sein oder zu werden, in der von rechts geführten Debatte einen zentralen Platz einnimmt: Gerade in patriotischen Subgruppen, die häufiger im ländlichen Raum auftreten, wird zuweilen zwischen «Schweizer*innen» und «Eidgenoss*innen» unterschieden – ersteres könne jede*r werden, aber letzteres referiert auf einen als natürlich gesehen Kern. Von den Menschen mit Migrationsgeschichte wird erwartet, dass sie sich für eine Identität entscheiden. Aber selbst dann werden sie nie ganz dazu gehören – egal, wie integriert sie sind.

Das Projekt „iCH“ ermöglicht einen spannenden, lustvollen und bereichernden Austausch über Schweizer Identitäten. Dieser macht uns allen, die wir in der Schweiz leben, besser bewusst, wer wir sind und was uns zusammenhält.